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V.
Evolutionsbelege
In den vorangegangenen Kapiteln haben wir die gängigsten, von
Evolutionsgegnern erörterten Themenbereiche behandelt und dabei
verschiedentlich schon in groben Zügen umrissen, welche Beobachtungen
für (transspezifische) Evolution sprechen. Wir haben ferner festgestellt,
daß wir weder für Evolution noch für sonst ein in der
Naturwissenschaft theoretisiertes Faktum Beweise im streng logischen Sinne,
sondern immer nur Belege anführen können, welche in unserem Falle
die Abstammungshypothese mit mehr oder minder hohem Grade der Sicherheit
abstützen. Der Übersichtlichkeit halber wollen wir die wichtigsten
Belege und Gegenargumente in diesem Kapitel zusammenfassend besprechen.
1. Die
abgestuften Ähnlichkeiten in der vergleichenden
Biologie
Seit DARWINs epochalem Werk "On the Origin of Spezies" von 1859
zählen die Ergebnisse der vergleichenden Anatomie sicher zu den
nachhaltigsten Belegen für die Abstammungs- oder Deszendenzhypothese.
Streng genommen liegen bereits seit LINNE Befunde vor, in deren Licht die
Evolutionsvorstellung nicht mehr nur als vage Spekulation, sondern als
begründete, wohlbestätigte Annahme erscheint (JAHN et al.,
1982, S. 256 f.). Doch erst im Rahmen des von DARWIN
vorgeschlagenen, theoretischen Evolutionsmechanismus (Variation und
natürliche Zuchtwahl) ergeben sich eine Reihe logischer Folgerungen
(Deduktionen) aus der Abstammungshypothese, die mit der Beobachtung
im Einklang stehen:
Daß strukturelle "Information" genetisch an die Nachkommen vererbt
wird, ist einleutend. Die Vererbung stellt, salopp formuliert, ein
"Gedächtnis" dar, "einen Speicher für alle Erfolge, die das
Leben jemals errungen hat." (v. DITFURTH, 1987, S. 40).
Wenn also die evolvierten Merkmale von Generation zu
Generation weitervererbt werden, wenn zugleich aber auch ein allmählicher
Wandel der Arten stattfindet und wenn die Abstammungshypothese stimmt,
dann ergibt sich die logische Folgerung, daß zwischen den Arten
eine (abgestufte) Formenähnlichkeit bestehen muß,
die sich vom morphologischen bis hinab zum molekularen Bereich erstreckt
(v. DONGEN und VOSSEN, 1984).
So ist für uns die Abstammung offensichtlich, wenn ein Kind seinen
Eltern "wie aus dem Gesicht geschnitten" oder der Enkel in seinem
Verhalten "ganz der Opa" ist. Entsprechend kann auch an der Verwandtschaft
zwischen den verschiedenen Arten kein rational begründeter Zweifel
bestehen, wenn man hier auf tiefgreifende Formenähnlichkeiten
stößt - vorausgesetzt, man erkennt die Standards wissenschaftlichen
Argumentierens an.
Vergleicht man die Organismen verschiedener Arten und Gruppen miteinander,
stellt man tatsächlich fest, daß zwischen ihnen mehr oder minder
große Ähnlichkeiten existieren (einen guten Überblick über
die Evolutionsbelege verschafft OSCHE, 1979, S. 11-30).
Als klassisches Beispiel seien die Extremitäten
der Vierbeiner (Tetrapoden) genannt, die bei den Arten zum Teil völlig
unterschiedliche Funktionen übernehmen und dennoch einen fast
identischen Feinbau besitzen. Vögel, Säugetiere, Reptilien - sie
verfügen gleichermaßen über Oberarmknochen, Elle, Speiche,
Handwurzelknochen, Mittelhand, sowie über (zumeist fünf)
Finger. Auch die Extremitäten der Wale gleichen denjenigen
von Vögeln und Primaten (vgl. Abbildung
1). REMANE et al. weisen darauf hin, daß gerade solch komplexe
Merkmalsgruppierungen, die bei verschiedenen Arten detailgetreu in
Erscheinung treten, aber im Dienste verschiedener Funktionen stehen,
auf Abstammung von einem Vorfahren hindeuten (REMANE et al., 1973,
S. 43; ähnlich OSCHE, 1979, S. 12; GOULD,
1987, S. 25; BERCK, 2002, S. 35 ff.; NEUKAMM, 2002, S.
40f.). Wie eine solche Datensituation völlig ohne Vererbung
und transspezifische Evolution erklärt werden könnte, ist meines
Erachtens bislang noch nicht überzeugend aufgezeigt worden.
Die strukturellen Übereinstimmungen lassen sich in neuerer Zeit bis
in den molekularen Bereich hinein verfolgen, wobei sich zeigt,
daß (fast) alle rezenten Lebewesen nicht nur denselben genetischen
Code besitzen, sondern auch in weiten Teilen über ein nahezu identisches
Repertoire an Genen, Biomolekülen und Stoffwechselprozessen verfügen.
Selbst Verhaltensweise und Mimikri sind bei
höheren Säugetieren ausgesprochen ähnlich. Die vergleichende
Verhaltensforschung hat sich daher als moderner Zweig in der Evolutionsforschung
etabliert und versucht, Verhaltensmerkmale zur Stammbaumerstellung heranzuziehen
(WINKLER, 1994).
Abbildung 1:
Ähnlichkeiten im Skelettbau der Extremitäten von
Vierfüßern (Tetrapoden). Von oben nach unten und von links nach
rechts: Fledermaus, Vogel, Maulwurf, Mensch, Wal und Eidechse. Trotz
verschiedener funktioneller Beanspruchung ist der Feinbau des Skeletts bei
den Tetrapoden praktisch identisch.
Wenn sich durch Aufspaltung und Umwandlung von Stammarten schrittweise
neue Arten gebildet haben und einmal getroffene "Entscheidungen", die sich
als erfolgreich herausgestellt haben, kaum mehr rückgängig zu machen
oder bestenfalls nur sehr eingeschränkt veränderbar sind, müssen
sich die vererbten Merkmale (Homologien) auch in eine
abgestufte Rangfolge bringen lassen (AX, 1984; WÄGELE,
2000). Daraus resultiert dann im Idealfall eine
gesetzmäßige Beziehung zwischen den Merkmalen oder
anders ausgedrückt: eine abgestufte Formenähnlichkeit,
ein hierarchisches System konsequent ineinandergeschachtelter
Organismenklassen (MAHNER und BUNGE, 2000, S. 230; Kapitel
II).
Auch diese logische Erwartung findet ihre (allerdings nicht vollkommene)
Entsprechung in der Wirklichkeit. Man findet die ähnlichen Merkmale
bei den verschiedenen Arten nicht völlig regellos kombiniert, sondern
häufig gesetzmäßig miteinander verbunden vor:
Beispielsweise alle Tiere, die über ein
Präorbitalfenster verfügen, bilden auch eine
Embryonalhülle (ein Amnion), aber nicht umgekehrt. Alle Tiere,
die wiederum eine Embryonalhülle besitzen, verfügen auch über
vier Füße, aber nicht umgekehrt. Schließlich besitzen
alle Vierfüßer eine Wirbelsäule, nicht aber umgekehrt
usw. Der Befund läßt sich erklären, wenn man davon ausgeht,
daß es sich bei der Wirbelsäule um die "evolutive Neuheit" einer
archaischen Stammart handelte, welche die Wirbeltiergruppe begründete.
Später begründete eine Stammart innerhalb der Wirbeltiergruppe
die Gruppe der Vierfüßer. Noch später entstand innerhalb
der Gruppe der Vierfüßer wiederum eine Art, welche mit der Entwicklung
des Amnions die Gruppe der Amnioten begründete usw. (vgl.
Beispielkladogramm in Kapitel II.1).
Aus der abgestuften Merkmalsbeziehung läßt sich mit
anderen Worten der Schluß ziehen, daß die Formenmannigfaltigkeit
das Ergebnis einer stammesgeschichtlichen Entwicklung ist, die sich in langen
erdgeschichtlichen Zeiträumen vollzogen hat.
Diese These wird auch durch den Fossilienbefund
gestützt, der ebenfalls zu den klassischen Belegen für eine
gemeinsame Stammesgeschichte der Arten zählt. Weil sich in der Evolution
die schrittweise Abänderung von Merkmalen vollzieht, ergibt sich
nämlich die Forderung, daß es fossil erhaltene Arten geben muß,
die in ihren mosaikartigen Merkmalsgefügen "zwischen" den heute
existierenden Organismengruppen stehen
(1). Desweiteren muß
"diese Verknüpfung zeitlich geordnet sein, sich also auch in
der geologischen Zeit schrittweise dem Typus angliedern" (REMANE
et al., 1973, S. 26).
Betrachten wir die fossil überlieferten Tier- und Pflanzenarten, so
stellt man - ungeachtet der Lückenhaftigkeit der Dokumentation - in
der geochronologischen Abfolge der Fossilien tatsächlich keinen chaotischen,
sondern einen geordneten Formenwandel fest. Die Lebewesen haben sich im Laufe
der Zeit in ihrem Bau immer mehr den heutigen Formen angeglichen. Zu den
Paradebeispielen zählt beispielsweise die Formenreihe in der Pferdeevolution
(OSCHE, 1979, S. 22). Auch die Entstehung der Wale und
Rüsseltiere ist fossil relativ gut und durch zahlreiche
Übergangsformen abgestützt (siehe Abbildung
2).
Abbildung 2: Die Entstehung von Rüssel und
Stoßzähnen bei den Rüsseltieren. Von links nach rechts:
Moeritherium (Eozän), Palaeomastodon (Oligozän),
Mastodon (Miozän), Stegomastodon (Pliozän), Mammonteus
(Pleistozän). Nach THENIUS und HOFER,
1960.
Ein weiteres Beispiel für evolutionäre Umwandlungen findet man
in der Entwicklung des sekundären Kiefergelenks der Säugetiere
aus dem primären Kiefergelenk der "Reptilien". Fast alle
nennenswerten Zwischenstadien liegen paläohistorisch dokumentiert vor,
einschließlich solcher Formen, bei denen beide Kiefergelenke funktional
nebeneinander vorliegen (beispielsweise bei Diarthrognathus).
Zusammenfassend läßt sich also festhalten, daß
die deduktiven Folgerungen der DARWINschen Abstammungslehre relativ
gut mit der Beobachtung in Einklang stehen. Sie führt die lange Zeit
disparat nebeneinanderstehenden Erscheinungen zusammen und erklärt sie
völlig zwanglos.
Die hypothetico-deduktive Methode der "Beweisführung" wird von
Evolutionsgegnern jedoch stark kritisiert. JUNKER und SCHERER betonen die
"Theoriebeladenheit" der Methode und zeigen, daß abgestufte
Formenähnlichkeiten nicht als streng logische Beweise, sondern bestenfalls
als fehlbare Indizien ("Deutungen") für Evolution verstanden
werden dürfen (JUNKER und SCHERER, 1998, S. 155).
Außerdem wird darauf hingewiesen, daß die Bestimmung von
abstammungsbedingten Ähnlichkeiten (Homologien) erheblich dadurch erschwert
wird, daß sich die Merkmale in aller Regel nicht in eine
vollkommene Hierarchie einfügen lassen. Einfacher ausgedrückt:
Viele Ähnlichkeitsmerkmale gehen nicht auf gemeinsame Abstammung
zurück (Homologie), sondern sind unabhängig voneinander
entstanden (Konvergenz, Analogie). Konvergente Merkmale (wie
etwa die Flossen von Wal und Hai) werden in der klassischen
Evolutionstheorie als das Ergebnis der Anpassung an gleichartige
Umweltbedingungen verstanden (OSCHE, 1979, S. 53-56). Eine
Entscheidung, welche Merkmale Homologien verkörpern und welche nicht,
läßt sich oft nur durch theoretische Überlegungen
und Merkmalsgewichtungen entscheiden, nicht aber durch die "nackten",
"theoriefreien Beobachtungstatsachen". Dazu JUNKER:
"Die (homologe oder analoge) Ähnlichkeit der
Organismen an sich gibt über ihre Ursache keine eindeutige und zwingende
Auskunft. Daher liefern Ähnlichkeiten keinen Beweis für Evolution
(...) Wenn nach bestimmten Kriterien erkannte Homologien sich auch als
Konvergenzen herausstellen können (...) ist die übliche
Schlußfolgerung vom Vorliegen einer Homologie auf gemeinsame Abstammung
nicht mehr möglich."
(JUNKER, 2002, S. 28, 40)
Schließlich wird betont, daß man für Ähnlichkeiten
auch funktionale Gründe finden könne, die einen Schöpfer
dazu "bewogen" haben könnten, verschiedene Arten mit ähnlichen
Strukturen auszustatten, sofern sie ähnliche Funktionen zu erfüllen
haben. Daher halte die prinzipielle Unmöglichkeit, Ähnlichkeiten
sicher auf die historische Kontingenz gemeinsamer Abstammung
zurückzuführen (und Funktionsähnlichkeit als mögliche
Ursache zweifelsfrei auszuschließen) der Schöpfungsalternative
einen Weg offen (JUNKER, 2002 b).
Man muß es zugeben: Die Argumentation ist logisch unangreifbar.
Dennoch läßt sich das gewünschte Ziel, nämlich die
Schöpfungsthese wissenschaftlich zu rechtfertigen, nicht
erreichen, weil der Gedankengang methodologisch fragwürdig ist.
Folgende Einwände lassen sich anführen:
-
Wenn behauptet wird, daß die Übereinstimmung zwischen einer
theoretischen Erwartung und einer Beobachtung die Theorie nicht beweise,
so ist das streng logisch gesehen zwar korrekt. Die Behauptung enthält
aber kein wissenschaftliches Argument gegen die Theorie, weil
praktisch alle Fakten (seien es historische oder gegenwärtige) auf diese
Weise erschlossen werden (vgl. Kapitel Ib.2.1). Man kann
dann nur noch die
hypothetisch-schlußfolgernde Methode der Naturwissenschaft generell
infragestellen und damit den Boden der wissenschaftlichen Argumentation
verlassen.
-
Die Schöpfungshypothese ist keine wissenschaftliche Alternative zur
Evolutionstheorie, weil Wissenschaft vorrangig nach
Erklärungen für bislang unverstandene Phänomene
sucht. Solche Erklärungen, wie wir sie im Lichte der Abstammungshypothese
vorgestellt haben, kann man mit der Schöpfungshypothese aber nicht
vornehmen. Denn was der "Kreator" erschaffen hat, wie und warum er das alles
so und nicht anders erschuf, wie er es getan hat, kann man mit den
"natürlichen" Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, prinzipiell
nie erforschen. Der Schöpfer braucht sich weder zu erkennen geben, noch
muß er sich innerweltlichen Gesetzen beugen oder mit Materie wechselwirken.
Der Ratschluß des "intelligenten Designers" bleibt von vorn herein
ein unlösbares Mysterium und erklärt daher nichts.
(2)
-
Auch das "Homologieproblem" ist kein stichhaltiges Argument gegen
die Abstammungshypothese. Selbst wenn man vielfach nicht sicher entscheiden
kann, bei welchen Ähnlichkeitsmerkmalen es sich um abstammungsbedingte
Homologien handelt, bedeutet das nicht, daß es keine Homologien und
keine Evolution gibt.
(3)
2. Höherentwicklung (Anagenese)
und Entropie
Wenn es eine transspezifische Evolution gibt, muß eine Anagenese
(Höherentwicklung) - im Sinne des schrittweisen Auftretens
immer komplexerer Lebensformen - im Fossilienbefund festzustellen
sein. Diese Folgerung leuchtet, wie v. DITFURTH betont, unmittelbar ein:
"Bevor man sich den Luxus der Anschaffung von
Flügeln, Antennen oder anderen Spezialausrüstungen leisten kann,
müssen erst einmal die elementaren, lebenserhaltenden Funktionen, etwa
die des Stoffwechsels, gewährleistet sein. Die 'Generalien' des Lebens
mußten früher verwirklicht werden als alle über das Notwendigste
hinausgehenden speziellen Ausstattungen."
(v. DITFURTH, 1987, S. 41)
Diese Erwartung läßt sich paläontologisch bestätigen.
Betrachtet man den Fossilienbefund, treten im Lauf der geologischen Zeit
immer komplexere Lebewesen in den Schichten in Erscheinung. In stark
vereinfachter Form läßt sich paläontologisch ungefähr
folgende Anagenese nachzeichnen:
Moneren (Bakterien) -> Einzellige Eukaryoten -> einfache
Metazoen (Schwämme) ->
erste Metazoen mit Ganglien (Nesseltiere) -> Metazoen mit
Strickleiternervensystem (Anneliden, Mollusken,...) ->
Chordata mit dorsalem Zentralnervensystem (Manteltiere) -> erste
Wirbeltiere mit Hirnstamm (Fische) ->
erste Wirbeltiere mit R-Komplex (Reptilien) -> erste
Wirbeltiere mit limbischem System (Vögel) /
erste Wirbeltiere mit Neocortex
(Säugetiere) -> Primaten mit hochentwickeltem
Neocortex (Mensch) -> ???
Eine Höherentwicklung von einfach zu komplex
organisierten Strukturen hat also nicht nur während der kosmischen und
chemischen Evolution stattgefunden, sondern auch während der
Geschichte des Lebens. Entsprechend läßt sich die "Reihenfolge
der Typen" nicht nur paläontologisch, sondern, wie obiges Schema andeutet,
auch vergleichend anatomisch rekonstruieren. Ordnet man etwa
die einzelnen Gruppen der Wirbeltiere hinsichtlich
der Komplexität des Gehirns, so entsteht eine Reihe "Fische -
Amphibien - "Reptilien" - Vögel/Säugetiere". Die
Evolutionsreihe ist praktisch identisch mit der zeitlichen Aufeinanderfolge
der fossilen "Typen" in der geologischen Schichtung, die Abstammungslehre
stellt mit anderen Worten die plausibelste Erklärung für
diese isoliert betrachtet zunächst rätselhaft erscheinenden
Beobachtungen (ähnlich BAUER, 1981, S. 331).
Evolutionsgegner sehen das naturgemäß anders. So behaupten
beispielsweise JUNKER und SCHERER, aus dem bloßen Formenvergleich sei
eine Höherentwicklung nicht ableitbar. Die These, daß
Höherentwicklung immer nur in die Merkmale "hineingelesen" werden
können, erklären die Autoren am Beispiel des Herz-Blutkreislaufsystems
der Wirbeltiere. Da ein mit dem Herzkreislaufsystem eines Säugetieres
ausgestatteter Fisch ökonomisch benachteiligt sei, benötige er
es nicht. Deshalb könne beim Vergleich der Herz-Blutkreislaufsysteme
nicht auf eine Höherentwicklung vom Fisch zum Säuger geschlossen
werden (JUNKER und SCHERER, 1998, S. 157).
Die Kritik ist berechtigt, wenn man mit dem Begriff "Höherentwicklung"
(wie das leider heute noch allzu oft geschieht) eine Wertung vornehmen
wollte, beispielsweise im Sinne einer fortlaufenden Vervollkommnung, besseren
Anpassung oder Ökonomisierung. Wenn man Höherentwicklung allerdings
als rein beschreibenden Begriff gebraucht und beispielsweise die
Komplexität von Organismen und Organen als Gradmesser der
Höherentwicklung heranzieht, kann sie nicht mehr greifen.
Strukturelle Komplexität ist eine intrinsische, dem materialen
System selbst innewohnende Eigenschaft und nicht, wie etwa der
Ökonomiegrad, eine relationale Eigenschaft, die von äußeren
oder inneren Milieufaktoren und Vergleichsgrößen abhängt.
Komplexität ist also objektiv feststellbar, ohne daß theoretische
Gewichtungen und Wertungen vorgenommen werden müssen. So ist das
Zentralnervensystem eines Primaten zweifellos komplexer strukturiert und
daher ohne jeden Zweifel höher entwickelt, als das Strickleiternervensystem
eines Insekts. An dieser Einsicht ändert die Tatsache, daß ein
Insekt, welches das Gehirn eines Primaten trüge, ökonomisch
benachteiligt wäre und deshalb nicht "schlechter" angepaßt oder
unvollkommener ist, nicht das Geringste.
Nach KÄMPFE läßt eine Reihe weiterer intrinsischer
Größen (wie etwa der Energie- und Informationsfluß in
Biosystemen) Rückschlüsse auf die Entwicklungshöhe eines
Organismus zu (KÄMPFE, 1992, S. 157). Beides steht
eng mit dem thermodynamischen Begriff der
"Entropie" (als Grad der Unordnung eines Systems) in Zusammenhang.
Man kann tendenziell feststellen: Je größer der (relativ
zum Gewicht gemessene) Energiefluß in einem Biosystem oder Organ, desto
geringer ist seine Entropie und desto "höher" seine evolutionäre
Entwicklungsstufe.
Die evolutionäre Tendenz zur Höherentwicklung
und Organisation ("Entropiesenke") wird gelegentlich als Verstoß gegen
den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik gewertet (BECK,
1978; BLISS et al. 1994). Er besagt, daß
die Entropie (und damit der Grad der Unordnung) in einem System einem Maximum
zustreben muß, so daß man annehmen könnte, die Entstehung
geordneter Systeme sei unter natürlichen Bedingungen unmöglich.
Das Gesetz der Zunahme der Entropie gilt aber nur für
adiabatisch abgeschlossene Systeme, nicht jedoch für
offene Zweigsysteme fernab des thermodynamischen Gleichgewichts
(MAHNER, 1986). In einem energiedurchflossenen
Zweigsystem (z. B. Biosystem) können durchaus Prozesse ablaufen, die
mit einer Erniedrigung der Entropie einhergehen. Den "Preis" dafür zahlt
das Obersystem, dem gegenüber das Zweigsystem offen ist
(KANITSCHEIDER, 1981). Das Argument ist also falsch, der
Zweite Hauptsatz der Thermodynamik oft derart unverstanden, daß selbst
fachlich versierte Evolutionsgegner, wie beispielsweise JUNKER und SCHERER,
davor warnen, es gegen Evolution einzusetzen.
Wenn man etwa in der Wüste den Schriftzug
"Coca Cola" im Sand findet, hat dessen Entropie abgenommen, die Ordnung im
Sand ist gestiegen. Die Entropie im Organismus des Urhebers, gegenüber
dem die Wüste "offen" ist, hat jedoch um einen noch
größeren Betrag zugenommen. Auf diese Weise kann man
verstehen, warum unsere Nieren - entgegen dem Konzentrationsgefälle
- Stoffe aufkonzentrieren können, weshalb Pflanzen aus Kohlendioxid
und Wasser Glucose aufbauen und chemische Reaktionen (wie etwa die
Ammoniaksynthese) ablaufen können, obwohl die Produkte gegenüber
den Edukten Entropie verloren haben. Im Falle der Biosynthese und
Bioevolution bezahlt die Sonne den Preis, weil sie mehr Entropie
emittiert als das Leben "abbaut".
__________________________________________
Fußnoten:
(1) Evolutionsgegner schätzen den Status
fossiler Mosaikformen in aller Regel falsch ein und erkennen solche
Zwischenglieder nicht als evolutionäre Übergangsformen an. Welche
Argumente dahinterstehen und weshalb sie auf einem antiquierten
Evolutionsverständnis beruhen, haben wir in Kapitel II.2.2
erörtert.
(2)
JUNKER wendet gegen dieses Argument ein, daß es auch der
Evolutionsbiologie kaum besser ergeht, weil sie nur
selten Detail-Erklärungen liefern kann. Auch hier laufe
die Erklärung häufig auf bloße Mutmaßungen hinaus
(JUNKER, 2002, S. 74, S. 83). Trotzdem
läßt sich die Situation der Evolutionstheorie mit derjenigen der
Schöpfungstheorie nicht vergleichen: Wenn in der Evolutionsbiologie
zahlreiche Fragen unbeantwortet geblieben sind, bedeutet das nicht, daß
wir die Antworten prinzipiell nie finden können,
sondern eben nur, daß wir vor praktischen Problemen der
Erkenntnis stehen. Ein Biologe kann auf naturalistischer Grundlage
weiterforschen, und es besteht die berechtigte Hoffnung, daß wir im
Laufe der Zeit immer mehr offene Fragen beantworten können. (Man braucht
sich nur einmal die Situation, in der sich DARWIN befand, mit der heutigen
zu vergleichen.) Dahingegen bringt die Forschung die Schöpfungstheorie
nicht weiter, weil wir prinzipiell nicht wissen können,
was sich der "Designer" wohl gedacht haben mag. Insofern ist der Begriff
"Schöpfungsforschung" in jedem Fall eine Zusammenstellung
widersprüchlicher Begriffe.
(3) Zum einen gibt es Merkmale, die mit einem
hohen Grade der Bestimmtheit als Homologien angesehen werden können.
Die Einordnung fällt insbesondere bei sehr komplexen Strukturen,
die teilweise bis in den mikroskopischen Bereich hinein detailgetreu
bei einer großen Zahl der unterschiedlichsten Gruppen
vorkommen und eventuell verschiedene Funktionen übernehmen (kurz:
bei Merkmalen, deren Parallelentwicklung aufgrund von "inneren
Konstruktionszwängen" nicht überzeugend erklärt werden
kann), recht leicht (GOULD, 1987, S. 265). Dazu zählen,
um nur einige Beispiele zu nennen, die Wirbelsäule, die
Extremitäten der Tetrapoden, die Embryonalhülle, das
"Dryopithecinenmuster" sowie die meisten DNA-Sequenzen
vergleichbarer Proteine (Widerspruch gibt es fast nur seitens der
"kritischen Schule" um GUTMANN und BONIK, auf die sich die
Evolutionsgegner verschiedentlich berufen). Insbesondere die Homologie
von Kontrollgenen scheint sich sich vielfach bestätigt zu haben.
Wenn ein artfremder "Hauptschalter" im Organismus denselben Effekt hervorruft
wie das arteigene Pendant, ist es kaum verständlich, wie sie konvergent
entstanden sein sollen (GEHRING, 1998). Außerdem ist
es wenig überzeugend, wenn Konvergenzen oft als unerklärte,
häufig auch nicht auf Umweltanpassung rückführbare, Anomalien
vorgeführt werden (vgl. z.B. JUNKER, 2002, S. 89 f.).
In neuerer Zeit wird klarer, daß auch die "innere Selektion"
nur bestimmte Modifikationen zuläßt, daß also das
"epigenetische System" dem Gestaltungsspielraum enge Grenzen
steckt. Evolution verläuft dann streckenweise in "vorgegebenen Bahnen",
und gleichartige "Entwicklungszwänge" führen bei artverschiedenen
Organismen zu Parallelentwicklungen, die nicht auf Abstammung und Umweltanpassung
beruhen (RIEDL und KRALL, 1994, S. 263).
Zweite, völlig neu bearbeitete Fassung (c) 02.02.2003
Last
update:
30.10.03
Voriges
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Inhaltsverzeichnis
(c) M. Neukamm, 30.08.2000